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Es war eine herrliche Feier. So viele fröhliche, lustige, singende und tanzende junge Menschen im großen Saal des Brandenburger Ratskellers. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung an den langen, gedeckten Tischen sowie auf der Tanzfläche. Es war noch früh am Abend, am Donnerstag, dem 9. November 1989. Ich war damals 17 Jahre alt und hatte vor zwei Monaten ein Fachschulstudium an der Medizinischen Fachschule der Stadt Brandenburg an der Havel, meiner Heimatstadt, begonnen. Ich wollte Krankenpfleger in der Psychiatrie werden, in der Bezirksnervenklinik Brandenburg, und dafür musste ich studieren. Damals war ich kein Lehrling oder Auszubildender. Nein, ich war Fachschulstudent, erhielt 200 Mark Stipendium und genoss dieses Privileg. Nach anfänglichen Eignungstests feierten wir alle am 9.11.89 unsere Immatrikulation. Es waren an diesem Abend angehende Krankenschwester/pfleger, Kinderkrankenschwester, Hebammen sowie Physiotherapeuten/-innen aus der Stadt Brandenburg sowie den umliegenden Orten und Gemeinden anwesend. Unser Lehrer für Informatik und Medizintechnik, der sich selbst „Alpha Centauri“ nannte und nebenbei in einer nahe gelegenen Diskothek als DJ tätig war, sorgte auch an diesem Abend für unsere musikalische Unterhaltung. Ich war grad mit mehreren anderen beschäftigt, das Tanzbein zu schwingen und dabei laut zu singen, das ich gern so alt wie ein Baum wäre. Da fielen mir einige Kommilitonen auf, die um Herrn Pollm, unserem Lehrer für Recht, standen und deren Gesichter nicht mehr so vergnügt und heiter aussahen. Es breitete sich aus wie ein Flächenbrand, der zusätzlich mit Brandbeschleuniger gefüttert wurde, wie ein immer stärker werdender Orkan, der unaufhaltsam an Größe und Kraft zunahm. Eine Nachricht, die ihren Ursprung bei Herrn Pollm fand. Er wiederum hatte diese aus der „Aktuelle Kamera“, die er, egal was auch komme, nie verpassen mochte. Die Mauer ist gefallen. Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Bei den meisten jedenfalls. Bei mir vermischte sich Verwirrtheit mit Fassungslosigkeit und ich dachte da nur an einen Scherz aus der „Versteckte Kamera“. In den letzten Monaten ist ja schon viel passiert. Freunde verließen uns Richtung Ungarn, andere versuchten ihr Glück in der deutschen Botschaft in Prag und hatten Glück, wenn Herr Genscher mal vorbei kam. Menschen gingen auf die Straße, trauten sich was zu sagen, machten auf sich aufmerksam. Mit jedem Tag und in jeder Stadt der DDR wuchs die Anzahl der Demonstranten auf den Straßen. Die frische Herbstluft roch nach Veränderung und mit jedem Tag wurde der Duft intensiver. Und jetzt soll die Mauer gefallen sein? Das Wahrzeichen der DDR, unser antiimperialistischer Schutzwall gegen Großkapital und Ausbeutung? Ich tanzte weiter und versuchte mir einzureden, das ich darauf nicht reinfallen werde. Die Mauer ist gefallen, hörte ich es von rechts. Die Grenze ist offen, kam es von links. Wie soll man sich da auf das Feiern und Tanzen konzentrieren? Und warum tanzte ich überhaupt noch hier, im Saal des Brandenburger Ratskellers auf meiner, unserer Immatrikulationsfeier? Ebenso könnte ich doch auf dem Ku-damm meine Beine schwingen, auf dem Trafalgar Square Leute beobachten, über die Champs-Elyseès bummeln oder auch gleich am Strand von Waikiki im Meer baden gehen. Die Anzahl der Tanzenden nahm stetig ab. Die meisten besuchten den neuen, völlig überfüllten Informationsstand. Und der befand sich bei Herrn Pollm. Sollte die neuste Nachricht wirklich stimmen? Sind wir die ersten Menschen, die sich zurückentwickeln? Im Geschichtsunterricht habe ich gelernt, das sich der Mensch stets weiterentwickle, stetig nach Höherem strebe. Das die Rangfolge der Klassengesellschaften vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus führe. Mit dem Fall der Mauer würde unsere grenzenlose Freude ja einen Rückschritt bedeuten. Oder beschreitet der Westen gar den Weg zum Sozialismus und wir sollen ihm dabei helfen? Schluss mit den Gedanken. Ich brauchte Klarheit. Die fand ich natürlich nur bei Herrn Pollm. Keine Ahnung, wie oft er bis jetzt predigte, wir mögen Ruhe bewahren, nicht voreiliges tun oder Dinge überstürzen, an unsere Ausbildung und Zukunft denken. Die meisten seiner Worte beruhigten, bekräftigten und mit seinen Äußerungen hatte er „Recht“. Naja, er war ja schließlich Lehrer in diesem Fach, an unserer Schule, die heute und hier die Immatrikulation vieler junger Leute feierte. Doch nun gab es einen weiteren Grund zum Feiern, deren Bedeutung und Ausmaße ich an diesem Abend noch nicht erahnen konnte. Mittlerweile wurde wieder ausgiebig gefeiert, gesungen und getanzt. Die Nachricht vom Mauerfall wurde von mir genauso gut verdaut, wie das vorangegangene, leckere Abendessen. Als dann kurze Zeit später der NDW-Kultsong „Ich will Spaß“, gesungen von Markus, aus den Boxen donnerte, überkam mich so ein Gefühl von grenzenloser Freiheit und alle grölten gemeinsam die Textzeile: „…Deutschland, Deutschland spürst du mich, heut Nacht komm ich über dich…“ Und das taten bestimmt noch viele tausend andere Menschen in Deutschland, in dieser Nacht, am 9. November 1989. Einige Zeit später saß ich mal wieder im Unterricht der Medizinischen Fachschule (MeFa) und büffelte die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. In der großen Mittagspause ging ich gern mit anderen Kommilitonen, wenn es in der Mensa nichts besonderes zum Essen gab, zum nahe gelegenen Brandenburger Hauptbahnhof, um dort in der Mitropa eine schöne, knackige Bockwurst mit viel Senf zu essen. Zu meinem Erstaunen bot sich meinen Augen ein sehr ungewöhnliches Bild des Bahnhofvorplatzes. Menschen über Menschen, oder auch Menschenmassen. Entweder spielen hier gleich die Pudhys oder ein Güterzug voller Bananen, der mal wieder auf dem Weg nach Berlin war, ist hier entgleist, dachte ich mir bei diesem Anblick. Nur sehr langsam kam ich voran. Mein Blick streifte an fröhlichen, lachenden und feiernden Leuten verschiedenen Alters vorbei. Meist bepackt mit Reisetaschen und Koffern, als hätte der FDGB Ausverkauf. Viele umarmten sich, einige hatten Tränen in ihren Augen oder weinten sogar. Eine junge Dame, vielleicht einige Jahre älter als ich, kam schon von weitem mit ausgestreckten Armen auf mich zu, umarmte und drückte mich. Auf ihre Frage, ob ich denn auch schon einen Stempel hätte, konnte ich, sehr irritiert, keine Antwort geben. Hätte sie mich nicht nach der Uhrzeit fragen können, oder nach meinen Namen? Aber was für einen Stempel hätte ich haben sollen? Die unbekannte, junge Dame bemerkte meine Verwunderung und das ich ihrer Glückseligkeit nicht mitspielte. Sie zeigte mit ihren Personalausweis, wo auf einer der hinteren Seiten ein frischer Stempel zu sehen war, der dem Inhaber des Ausweises die mehrmalige Ein-und Ausreise von und nach der BRD und Berlin-West gestattete. Was war ich baff. So einen Stempel hatte ich nicht. In meinem prangten abfotografierte schwarz-weiß Bilder der Ärzte oder Passbilder von Verehrerinnen. Einen Stempel hatte ich auf meinem Führerschein, aber der zählte hier und heute nicht. Man könne sich den Stempel im VPKA (Volkspolizeikreisamt) geben lassen, wie toll das jetzt alles ist, warum ich noch keinen Stempel hätte, am besten jetzt gleich los gehen und sich bei der Polizei anstellen bevor es noch voller werde, gleich geht’s in den Westen, Begrüßungsgeld holen. Mein Gott, konnte diese junge Dame schnattern. Und sie hätte noch weiter geschnattert, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, das ich großen Hunger habe und mir erstmal in der Mitropa eine schöne, knackige Bockwurst mit viel Senf genehmigen werde. Nun hörte die junge Dame abrupt auf, zu schnattern. Ihre wild gestikulierenden Arme wirkten starr und die Mimik wechselte von himmelhoch jauchzend ins fassungslose mit großen, runden Kulleraugen. Und so ließ ich die junge Dame auf dem Brandenburger Bahnhofvorplatz stehen, um mich weiter Richtung Mitropa vorzuarbeiten. Vorbei an lauter aufgeregten Menschen mit Stempeln in ihren Ausweisen. Ich fand, das die Bockwürste auf Bahnhöfen immer am knackigsten schmeckten. Gleich neben Gleis 1 stand die Bockwurstbude der Mitropa . Ich hatte Schwierigkeiten zu unterscheiden, wer an der Bude anstand oder einfach nur herum stand, wartend auf den nächsten Zug Richtung Westen. Der Zug hieß bei manchen Mumienexpress, denn meist alte Damen und Herren, von Beruf Rentner, befuhren die Strecke Magdeburg – Berlin, stiegen an der Endhaltestelle Friedrichstraße aus und passierten den Grenzübergang nach West-Berlin. Schon komisch, von Brandenburg aus gesehen liegt Berlin-West aber im Osten. Ist ja egal. Die alle hier wollten weg, raus aus ihrer Heimatstadt, raus aus der untergehenden DDR. Die meisten von denen hatten auch sichtlich gar nicht die Absicht, je wieder zu kommen. Prall gefüllte Koffer und Taschen sahen nicht nach einer Kurzreise aus. Wenn jetzt viele nicht wiederkehren, so dachte ich, würde sich an der Wohnungsproblematik einiges zum positiven wenden. Das war halt die Wende. So stand ich nun in meiner Mittagspause am Gleis 1 des Brandenburger Hauptbahnhofes, genoss meine schöne, knackige Bockwurst mit viel Senf und beobachtete freudige Menschen, die heute in den goldenen Westen fahren. Schon komisch, die alle haben einen Stempel in ihrem Personalausweis. Ich nicht. Die alle fahren heute in den Westen, viele für immer. Ich nicht. Haben denn die alle keine Arbeit? Müssen die denn keine Brote backen, Haare schneiden, Autos reparieren, in der Kaufhalle an der Kasse sitzen oder kranken Menschen auf die Toilette helfen? Und wenn dann die alle weg sind, wer macht dann ihre Arbeit für die Zurückgebliebenen? Womöglich gibt’s hier morgen keine Bockwurst mehr! Ein seichtes Gefühl der Panik überkam mich. Meine Mittagspause war fast vorüber, meine schöne, knackige Bockwurst mit viel Senf aufgegessen, schaute ich mich nochmals um. So viele Menschen. Wann waren so viele Menschen das letzte mal auf dem Brandenburger Hauptbahnhof? Zur Eröffnungsfeier? Mein Blick hielt plötzlich inne. Es war durchaus möglich, das mein Gesichtsausdruck, das der jungen Dame von eben identisch war. Ist das nicht Frau Bendt? Die Frau Bendt, unsere BpU-Lehrerin (BpU= berufspraktischer Unterricht). Die Frau Bendt, die uns im letzten, praktischen Turnus erzählte, das sie es nicht verstand, wie Krankenschwestern Patienten im Stich lassen können, um auszuwandern? Die Frau Bendt, die uns predigte, wie wichtig es sei, die Krankenpflege in dieser schwierigen Zeit, aufrecht und stabil zu halten. Die Frau Bendt, die alle bat, gemeinsam mit ihr zu bleiben, zum Wohle der Klinik und der Patienten? Genau dieser Frau Bendt, unserer wohlwollenden, fürsorglichen und treuen BpU-Lehrerin, stand ich nun gegenüber. „Guten Tag, Frau Bendt, wollen sie verreisen?“ Diesen Gesichtsausdruck hatte ich irgendwann heute schon einmal gesehen. Außer dem erwidernden „Guten Tag“ kam nur ein gestammel wie „ja“, „nein“, „doch“ oder „das ist jetzt nicht so, wie es aussieht“. Wonach sollte es denn aussehen? Frau Bendt stand am Gleis 1 des Brandenburger Hauptbahnhofes, vor ihr mehrere Koffer und Taschen und bestimmt hat sie einen Stempel in ihrem Personalausweis. Ich bemerkte ihr Unbehagen und ein leichtes Schamgefühl. Da meine Zeit knapp war und mir die Situation auch nicht gefiel, verabschiedete ich mich von ihr mit dem Hinweis, das man sich ja übernächste Woche im BpU in der Klinik sehen werde. Diesmal war sie ehrlicher und antwortete mit einem klarem „Nein“. Ich aber hatte ihr schon den Rücken gekehrt und begab mich zurück zur MeFa. Ich kehrte meinen Rücken denen, die heute verreisen, auf Zeit oder für immer. Wer lässt denn hier wen im Stich? Die Brandenburger Kette hatte nun Glieder verloren. Wer ersetzt nun die fehlenden Glieder und wie lang wird die Kette anschließend bleiben? Ich ging zurück zur Schule, um zu lernen, für mich, für die Zukunft, ohne einen Stempel in meinem Personalausweis. Was ist, wenn es später keinen Stempel mehr gibt? Was ist, wenn später die Grenzen wieder geschlossen werden? Was ist, wenn später keiner mehr da ist? Fragen über Fragen ohne Antworten zum Verdauen meiner knackigen Bockwurst mit viel Senf. Na toll, danke. Ich kam gerade rechtzeitig zur nächsten Unterrichtsstunde. Recht, bei Herrn Pollm. Manchmal sehr interessant, meistens jedoch ermüdend und langweilig. Verwirrte Gedanken, aus dem Gehörten und Erlebten der Mittagspause, schien ein Jeder zu Beginn der Unterrichtsstunde zu haben. Auch Herr Pollm überlegte, mit welchen Worten er beginnen sollte, was relativ selten war. Wie immer fand er auch diesmal die richtigen Worte, beruhigte meine innere Unruhe mit sachlichen, verständlichen Inhalten, natürlich stets gespickt mit einer Prise Witz und Ironie. Gespannt hörte ich seinen Hinweisen und Tipps zu, wie er, immer noch überzeugt von der Erhaltung der DDR, bis zum Schluss hier bleiben werde. Denn, einer müsse ja schließlich das Licht ausmachen. Und das wollte er sein. Die absolute Krönung für Herrn Pollm wäre, wenn er abends im DDR-Fernsehen von der „Aktuelle Kamera“ mit den Worten, „Guten Abend Herr Pollm, hier sind ihre Nachrichten“, begrüßt werden würde. Na, so lange wollte ich bestimmt nicht warten und hoffte, ohne jegliche Aufmerksamkeit zum Unterrichtsstoff, auf das baldige Ende des heutigen Schultages. Auf dem Brandenburger Bahnhofsvorplatz war es am Nachmittag deutlich leerer, so wie an einem ganz normalen Tag. Hatte ich mir nur alles eingebildet? Ich sollte erstmal nach Hause fahren und mich ausruhen. Zu viele informelle Daten an einem Tag. Also fuhr ich mit der Straßenbahn der Linie 1 nach Hause. Einige Haltestellen weiter ging es genau am Volkspolizeikreisamt vorbei. Schon wieder unnormal viele Menschen, wartend in einer Schlange, vor der Polizei. Wer geht den freiwillig zur Polizei? Aber natürlich, der Stempel. Ich war müde, geschafft und fertig. Also, ab nach Hause, hinlegen und schlafen. Anderseits, ich hatte immer noch keinen Stempel in meinem Personalausweis. Also, nichts wie raus aus der Tram und bei der Polizei anstellen. Ich glaube, ich habe zu lange überlegt, denn ich saß immer noch in der Straßenbahn, als diese, mit einem Gebimmel, ihre Abfahrt signalisierte. Na klasse, alle fahren in den Westen und ich fahr nach Hause. Ich nahm mir vor, wenn ich wieder wach werde, schalte ich die „Aktuelle Kamera“ an und erwarte meine ganz persönliche Begrüßung. So lange schlief ich dann aber doch nicht und auf diese Nachrichtensendung verzichtete ich ebenfalls. Ich traf mich dann am Abend mit einigen Freunden vor unserer ehemaligen Schule. Es tat gut, zu hören, das es noch andere, außer mir gab, die es, auf Grund mangelnder Zeit, noch nicht geschafft hatten, sich einen Stempel zu holen. Und es tat gut, das es noch welche gab, die hier geblieben sind. In meinem letzten praktischen Einsatz, im Klinikum, hofften die Schwestern stets, das nach einem anstrengenden Dienst auch wirklich die Folgeschicht kommen würde. Als Schüler hatte ich Glück. Ich hörte aber auch andere Geschichten. Aber vielleicht hatte ein jeder vor, das Licht auszumachen. An diesem Abend schlenderten meine Kumpels und ich so durch die Straßen von Brandenburg, bewusst oder unbewusst, Richtung Volkspolizeikreisamt. Mir war dieser Stempel nicht mehr so wichtig, es würde sich heute, morgen, nächste Woche oder nächsten Monat nichts ändern. Ich hatte hier meine Ausbildung, meine Freunde und meine Familie. Und diese Gründe waren mir wichtig. Ich fand es gut und lobte mich selbst dafür. Es war richtig leer auf der Polizeiwache und etwas später hatte ich nun meinen eigenen Stempel in meinem Personalausweis. Ich ging nach Hause, nicht in den Westen, denn morgen hatte ich wieder einen anstrengenden Schultag vor mir. Bestimmt ess ich wieder eine schöne, knackige Bockwurst mit viel Senf. Hier in Brandenburg, auf dem Bahnhof, wo sie am besten schmeckt.
ENDE
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